Die Wiedereinführung von Ray Wilkes

Der originelle Minimalist war der Urheber für Herman Millers denkwürdigsten Vorstoß in die Welt postmoderner Möbel – 45 Jahre später werden diese Entwürfe neu aufgelegt


Verfasst von: Kelsey Keith

A yellow Wilkes Modular Sofa Group Chair, a red Wilkes Modular 2 Seat Sofa and a blue Wilkes Modular 3 Seat Sofa each placed in front of each other angled in a line.

Wahrscheinlich ist Ihnen Ray Wilkes als Person weniger bekannt als #raywilkes als Hashtag. Letzteren finden Sie meist in Verbindung mit einem Foto von Wilkes langlebigstem Entwurf, einem modularen Sitzsystem mit seiner charmanten abgerundeten Silhouette. Eventuell finden Sie einen  #raywilkes auch an unerwarteter Stelle, so wie ich ihn  in einem Instagram-Post eines Antiquitätenhändlers in der Bay Area entdeckt habe, der einige Jahre zuvor ein Paar solider Chromstuhl-Fußkreuze direkt von dem Designer erstanden hatte. Diese Fußkreuze sind sehr ungewöhnlich und selten – es handelte sich um Prototypen für Herman Miller, die nie in Produktion gingen – und ich war total begeistert.

Wahrscheinlich bin ich nicht die Einzige, der mehr über Ray Wilkes erfahren möchte, jetzt wo Herman Miller diese legendäre modulare Sofagruppe – mit dem Spitznamen „Chiclet“ – für die nächste Generation neu aufgelegt hat.

Contact sheet of black and white photographic negative portraits of Ray Wilkes from various angles and orientations.

Herman Miller Werbefoto, ca. 1975.

Ray Wilkes, der Designer, ist inzwischen 85 Jahre alt, lebt in Südkalifornien und hat ein brillantes Gedächtnis für Details. Er erinnert sich an die Adresse des Büros von George Nelson in Manhattan (50. Straße, 5th Avenue), als Ray mit einem Stipendium des Royal College of Art zum ersten Mal in die USA kam. Er erinnert sich noch genau an den Herman Miller Katalog (Action Office I, 1964, mit einem grünen Einband), für den er zusammen mit seiner Kollegin Tomoko Miho aus dem Nelson-Büro Zeichnungen beisteuerte.

Wie Lance Wyman – ebenfalls ein Freund und Kollege aus den Tagen bei Nelson – ist Wilkes „ein messerscharfer Denker und dabei ausgesprochen witzig“.

A seven-wide by three-high arrangement of Wilkes Modular Sofa Group Chairs in a variety of colors.

Ein kluger Brite in Michigan

„Tatsächlich mag ich einfache Lösungen“, sagt Ray Wilkes. „Das ist die Philosophie meines Lebens. Ein Architekt sagte mir einmal, ich sei ein wahrer Minimalist. Minimalismus bedeutet nicht einfach nur gerade Linien – das Wichtigste sind die Form und das einfache Erzeugen dieser Form.“

Diese Perspektive war der Motor für Wilkes gesamte Arbeiten, ganz besonders jedoch für die Entwicklung seiner modularen Sofagruppe. Nachdem er nach Michigan gekommen war, um unter dem Chefdesigner Bob Blaich für Herman Miller zu arbeiten, begann Wilkes mit einem neuen Spielzeug im Fertigungsbereich der Firma zu experimentieren: einer Maschine zum Einspritzen von Schaumstoff in eine Gussform. „Zuerst wollten sie die Maschine für Eames-Möbel verwenden, und dann wurde ich gefragt, wie die Maschine eingesetzt werden könnte“, erinnert sich Wilkes. Er hatte die Technik nach einem Aufenthalt bei dem Designer Harvey Probber in Rhode Island kennengelernt und fand heraus, wie man die Bildung von Luftblasen im Schaumstoff vermeiden konnte.

Black and white photo of product development team inspecting Wilkes Modular Sofas during manufacturing process.

Die von ihm entwickelten Formen waren „rundum fließend und ließen sich mit den Zwei-Wege-Stretch-Stoffen von Herman Miller beziehen, die um die Kante des Kissens gesäumt herum wurden, – was mit herkömmlichen Stoffen kaum möglich gewesen wäre“. Diese spezielle Kissenform brachte der Kollektion einen noch heute gebräuchlichen populären Spitznamen ein: Chiclet.

„Erst diese Technologie hat Chiclet möglich gemacht; vorher hatte es das noch nirgends gegeben. Und natürlich ist das Konzept außerordentlich einfach.“
– Ray Wilkes, Designer

Auf den ersten Blick  wirkt sein Design wie eine stilistische Abkehr von den Herman Miller-Klassikern, aber Amy Auscherman, die Leiterin der Abteilung Archive und Markentradition, betont, dass „es sich um ein modulares System handelt und Systeme zu den größten Stärken von Herman Miller zählen“.

Ebenso kann Herman Miller auf eine lange Reihe von Innovationen bei Material und Möbeln zurückblicken, die geprägt wurden von der Eames-Formsperrholzgruppe und zurückreichen bis Gilbert Rohde und der Erfindung des modularen Sofas. „Chiclet bietet eine neue Möglichkeit, diese Idee mit neuen Materialien und einer anderen Ästhetik umzusetzen“, erklärt Auscherman. „Es sieht postmodern aus, ist aber im Grunde zeitlos, weil es auf das Wesentliche reduziert ist.“

“The new Modular Sofa Group” brochure from 1976 featuring two green Wilkes Modular Sofas perpendicularly placed in an office with a globe.
“Modular Sofa Group” brochure from 1976 featuring six front-facing Wilkes Modular Sofas in staggered rows, upholstered in rainbow color scheme.

Herman Miller Werbefoto, ca. 1976.

Design zur Problemlösung, vom Sling bis zum Soft Seating

Nachdem Wilkes seinen Abschluss in Möbeldesign am Londoner Royal College of Art gemacht hatte – mit Auszeichnung, wie er betont, ­ kam er nach New York und hatte nur ein Ziel vor Augen: in George Nelsons Studio zu arbeiten. Er schloss sich dem Team von Designern an (die bereits erwähnten Miho und Wyman sowie Hilda Longinotti, Ron Beckman, Bill Cannan, Irving Harper und andere) und erhielt die Aufgabe der Fehlersuche bei einem neuen Möbelstück: dem  Sling-Sofa.

„Ich war dafür verantwortlich, dass das Stück auch nutzbar war, nachdem das Design stand. Es gab Probleme mit der Polsterung an der Verbindungsstelle zum Rahmen, also habe ich etwas recherchiert“, erinnert sich Wilkes. „Eine englische Firma stellte damals Gummimatten her, also habe ich diese Matten statt des Gewebes unter den Kissen angebracht. George sagte zu mir ‚Danke, Junge‘ – ich hatte ihm geholfen, das Sofa ins MoMA zu bekommen.“

Nach drei Jahren bei George Nelson & Associates kehrte Wilkes nach Großbritannien zurück, und dann wie ein Bumerang wieder in die USA – zunächst nach Rhode Island, wo er eine Zeit lang für Probber arbeitete, anschließend weiter nach Michigan, wo er eine Vollzeitstelle bei Herman Miller antrat. Die Miller-Jahre waren beruflich wie privat sehr kreativ und erfolgreich – Wilkes lernte hier seine Frau Anitra Seitamo kennen, eine finnische Designerin, die in den Ausstellungsräumen des Unternehmens arbeitete.

Einige seiner Prototypen für das Unternehmen schafften es nie bis in den Verkauf. Wilkes beschreibt ein Schreibtischsystem aus Holz – eine „Alternative zum Action Office, das mir immer etwas langweilig erschien“. Vor dem Hintergrund einer neuartigen Bürolandschaft stellt die Umsetzung seiner Ideen Mitte der 1970er Jahre eine echte Herausforderung dar. „Die Marketingabteilung war immer mit Action Office II beschäftigt und machte Sitzmöbel mit Netzgewebe statt mit Polsterung. Die ganze Energie der Firma floss in diesen Bereich.“

Two models of Wilkes Soft Seating facing each other at a quarter angle: one with orange upholstery and white base; the other with brown upholstery and chrome base.

Dennoch gelten Wilkes Designs aus dieser Zeit als herausragend und vorausschauend: frühe Vorläufer der heute so beliebten Kissen-Polsterform mit einem Schuss Humor der 70er. Da ist beispielsweise das Soft Seating von 1974, eine Kollektion von Polsterstühlen mit einem „großzügigen Maßstab und einer weichen Oberfläche für höchsten Komfort“; die Stühle waren auf einem verchromten Fußkreuz platziert, das die Rollen darunter verdeckte.

Oder der Rollback Chair (1977), den die New York Times in ihrem NeoCon-Artikel dieses Jahres wie folgt beschreibt:

Das überdimensionale Würstchen mit den Maßen einer riesigen Papierhandtuch-Rolle bietet dem Benutzer sieben verschiedene Rückenlehnen-Positionen, die sich über einen Bogen von 70 Grad einstellen lassen. Der bärtige britische Designer rollte die Rückenlehne mühelos durch ihre Positionen, brauchte jedoch mehrere Minuten, um die Sitzhöhe richtig einzustellen.

„Man braucht schon ein bisschen Übung“, gab er ungeduldig zu und machte es sich bequem, indem er sich in einem vollen Kreis herumschwang und rittlings auf den Stuhl stieg. „Das ursprüngliche Design war mit einer Druckluftvorrichtung versehen, die die Einstellung der Sitzhöhe vereinfachte. Dabei müssen wir noch ein paar Produktionsprobleme lösen, aber diese Funktion wird kommen.“

Composite of four photos featuring the Wilkes Rollback Chair in various configurations, materials, and finishes in staged office settings.

Eine Auswahl interner Produktentwicklungsfotos von Wilkes Rollback Chair, ca. 1977.

Ray Wilkes seated backwards on stool-height Rollback chair on raised platform surrounded by various chair models during its debut at Neocon in 1977.

Ray Wilkes auf seinem Rollback Chair auf der Herman Miller Ausstellung im Chicago Merchandise Mart während der NeoCon-Messe 1977.

Ein weiteres Stück von Wilkes, das bis in den Verkauf gelangte, war ein Flatpack-Kaffeetisch als Ergänzung der modularen Sofagruppe. Er ist extrem einfach und besonders praktisch: eine obere Metallplatte mit Klammern, die unten einrasten, und gebogene Füße.

Man mag sich darüber wundern, dass Chiclet seit seiner Vorstellung 1976 einen solchen Eindruck bei Vintage-Sammlern hinterlassen hat. Die anhaltende Relevanz des Sofas freut Wilkes, aber sie überrascht ihn nicht wirklich: „Das Design ist so einfach, dass es zeitlos ist.“

Front three-quarter angle view of a Wilkes Modular Sofa Group Chair in yellow.
Overhead close-up view of a Wilkes Modular Sofa Group Sofa in red.

„Ich liebe diese Hits unter dem Radar, und jetzt gerade ist Chiclet der größte Hit.“
– Amy Auscherman, Leiterin der Abteilung Archive und Markentradition

Was als Nebenprodukt vorgestellt wurde und hauptsächlich für Lobbys in Bürogebäuden gedacht war, ist bequem und vielseitig genug für fast jeden Wohnraum. Die Originale, meist Zwei- und Dreisitzer, sind in der Regel sofort ausverkauft, sobald sie in Geschäften wie Bi-Rite Studio, Home Union und Circa Modern auftauchen. Auscherman – die bei ihrem Umzug nach Michigan und ihrem Einstieg bei Herman Miller ebenfalls ein Arrangement aus Chiclet-Sessel und -Sofa über Craigslist fand – meint dazu: „Unsere erfolgreichsten und langlebigsten Produkte haben sich in jedem Kontext bewährt, weil das Design einfach gut ist”.

A dark yellow Wilkes Modular Sofa Group Chair faces forward in font of a Wilkes Modular Sofa Group 2 Seat Sofa in red and a Wiles Modular Sofa Group 3 Seat Sofa in blue.

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