Mit dem Auge des Designers

WHY zeigt ein Portfolio aktueller Reisebilder von Don Chadwick, dem Mitdesigner des Aeron Stuhls.


Verfasst von: Sam Grawe

Grafik von: Don Chadwick

Ein Ziegelsteindurchgang bei Escuelas Nacionales de Arte in Kuba.

„Es ist unsere Aufgabe als Designer, Dinge zu sehen, die andere Menschen nicht sehen“, sagte Don Chadwick WHY 2012, als wir in seinem Studio in Santa Monica (Kalifornien) filmten. „Wer neugierig ist wie ich, beschäftigt sich ständig mit der visuellen Sprache um uns herum.“

Die visuelle Sprache, die uns unsere Umgebung bietet, in eine natürliche Ordnung zu bringen, ist seit langem ein Anliegen von Designern. In der Einleitung zu seinem 1977 erschienen Buch How to See schreibt George Nelson: „Wenn wir die physische Umgebung, in der wir die meiste Zeit verbringen, wirklich sehen wollen, müssen wir etwas von Design und vom Designprozess verstehen. Anders ausgedrückt: Sehen und Design hängen zusammen, genauso wie Denken, Sehen und Gefühle zusammenhängen.“

Genau wie Nelson nur selten ohne eine Kleinbildkamera um den Hals in der Öffentlichkeit zu sehen war, hat auch Chadwick immer eine Kamera – heute eine digitale – parat. „Wie ich bereits im Film erwähnte, ist die Kamera eigentlich nur ein weiteres Paar Augen. Ich mache mir keine Notizen, sondern ich mache Fotos“, erklärt er. „Ich sehe mir die Bilder dann noch einmal an und sie ermöglichen es mir, mich in bestimmte Situationen zurückzuversetzen oder bestimmte Aspekte wachzurufen, die damals wichtig waren. Es ist, wie wenn man eine Geschichte erneut liest, ohne sie je niedergeschrieben zu haben … Es ist eine Geschichte für mich.“

Inspiriert von seiner Leidenschaft für die Fotografie bat WHY Chadwick darum, einige seiner neueren Bilder vorzustellen. Er war so nett, uns die folgende Sammlung von Bildern zu senden, die er während seiner letzten Reisen nach Marokko und Kuba aufgenommen hat. „Es ist immer interessant, in solche Länder zu reisen und zu sehen, wie der dortige Durchschnittsbürger im Gegensatz zur sogenannten Elite lebt“, erläutert er. „Man ist sich dieses Zwiespalts immer bewusst.“

Und tatsächlich scheint ein gewisser Sinn für Zwiespalt häufig zu bestimmen, worauf Chadwick sein Objektiv richtet. Auf der einen Seite gibt es visuelle Gegenüberstellungen – in der Größe kontrastierende Elemente, Schatten und Licht, Monochromie und Farbe, Vordergrund und Hintergrund. Dass Chadwick ein Auge für fesselnde Bilder hat, überrascht angesichts seiner Fähigkeiten als Designer natürlich nicht. Blickt man aber tiefer in die Bilder hinein, kommt eine weitere Inhaltsebene an die Oberfläche. Durch Gegenüberstellungen von Tradition und Moderne, von Verfall und Wachstum, von Natur und Menschenwerk nehmen wir etwas vom Wesen der menschlichen Existenz wahr. Wir sehen ungewollte Ergebnisse kleiner Entscheidungen, die der Mensch jeden Tag trifft. Wir sehen die kumulative Wirkung kleiner, fast vernachlässigbarer Details. Wir sehen, dass wir die Welt, die wir bewohnen, formen und von ihr geformt werden. Wir sehen die Geschichte.

Die Komposition eines Bildes ist ein Eliminierungsvorgang – wir lassen selektiv die Welt jenseits des Blickwinkels des Objektivs weg. Was bleibt, ist die einfache Aufzeichnung des Lichts von einem bestimmten Punkt aus zu einem bestimmten Zeitpunkt – eine visuelle Kommunikation so prägnant wie ein Wort in einem Satz. Ein Bild zu lesen, so erinnert uns allerdings Nelson in How to See, ist nicht wie das Lesen dieses Absatzes. Es gibt keine vereinbarten Regeln, die zu befolgen sind, und jeder von uns findet womöglich eine andere Bedeutung. „Wir sehen im Licht eigener Erfahrungen, gespeicherter Informationen, privater Interessen und tief verwurzelter Überzeugungen“, schreibt Nelson. „Das Interesse an einem Thema liegt nicht in einer Hierarchie der Motive, sondern im Leser und seiner Fähigkeit, die Mitteilungen zu entschlüsseln.“

Arch

Bogen
Diese Aufnahme entstand in den Königlichen Pferdeställen in Meknès (Marokko). Als diese im 17. Jahrhundert errichtet wurden, dienten sie als Stütze für alles. Während sie verfallen und die Alterung einsetzt, lösen sich einige Schichten ab. Mir gefiel, wie in einem dieser gewölbten Bereiche diese eine Lampe sowohl die Struktur als auch die Erosion beleuchtete.

„Die Textur und die Ehrlichkeit der Materialien und der Handwerkskunst sagen viel aus. Das stammt nicht aus dem Baumarkt vor Ort, so viel ist sicher.“

— Don Chadwick

Atlas Door

Tür im Atlas
Diese Aufnahme entstand im Atlas-Gebirge in einem kleinen Dorf, das an die Pueblos der amerikanischen Indianer erinnerte. Die meisten Gebäude bestanden aus Lehm oder Lehmziegeln. Die Textur und die Ehrlichkeit der Materialien und der Handwerkskunst sagen viel aus. Das stammt nicht aus dem Baumarkt vor Ort, so viel ist sicher.

Fes I

Fes I
In Fes fiel mir auf, wie primitiv ein Großteil der typischen Architektur wirkte. Einerseits gibt es improvisierte Holzbalken, die alles an Ort und Stelle halten, andererseits ragt aus praktisch jedem Gebäude eine Satellitenschüssel heraus.

Fes II

Fes II
Mein erster Eindruck war die monochrome Wirkung. Von diesem Standpunkt aus vermischt sich in der Altstadt von Fes alles in Farbe und sich wiederholender Gleichförmigkeit. Unten in den Gassen brodelt dann aber das Leben auf der Straße. Und es herrscht sicher kein Mangel an Satellitenschüsseln.

 

The Souks

Die Suqs
Die Suqs oder Basare sind Touristenbereiche. Wenn man sie durchquert, wird einem ständig etwas verkauft – Essen, Kleidung, Keramik, Fliesen, einfach alles. Wenn man herumspaziert, sieht man diese Zeichen von „hier bin ich, probier mich“. Dies sind kleine Entdeckungen – Grafik und Details –, die mir aufgefallen sind.

The Tannery

Die Gerberei
Die Gerbereien von Marokko sind berühmt und waren interessant anzusehen, da der Vorgang der Lederherstellung so deutlich sichtbar ist. Manche fanden den Geruch widerlich – man erhielt Minzblättchen, die man sich an die Nase halten sollte. Ich fand ihn überhaupt nicht so schlimm.

Hassan II Mosque

Hassan II.-Moschee
Diese Moschee in Casablanca war wirklich spektakulär. Man kann sie nicht wirklich mit einer gotischen Kathedrale vergleichen, aber das Raumgefühl ist ähnlich dramatisch. Hier interessierte mich die Art und Weise, wie das Licht die Wand durchdringt. Und weil es so makellos ist, wurde es vollkommen von der Oberfläche des Bodens reflektiert.

Mosque Ceiling

Decke der Moschee
Mich begeisterte die Detailverliebtheit und Handwerkskunst, die in der Moschee zu sehen sind. Das sieht man einfach nicht, wenn man die städtischen Bereiche in Marokko durchstreift.

Souk Window

Suq-Fenster
In den Suqs sieht man Gebäude, die kaum noch richtig stehen – sie verfallen. Was aber verkauft wird, ist brandneu. Hier hat man diesen tollen Kontrast zwischen der neuen Kleidung, die vor dem Fenster – oder durch das Fenster hindurch – ausgestellt wird.

YSL Door

YSL-Tür
Der Jardin Majorelle in Marrakesch wurde in den 20er- und 30er-Jahren während der Kolonialzeit entworfen und gehörte später Yves Saint Laurent. Jetzt ist er eine Touristenattraktion, doch mich faszinierte die überbordende Farbe. Solche Farben sieht man normalerweise nicht.

Havana

Havanna
Diese Aufnahme entstand hinter einem Restaurant in Havanna, das aus einer anderen Art von Gebäude umgewandelt worden war. Irgendwie sah das Azurblau des Ozeans gegen das Türkis des Swimmingpools, dazu noch von diesen Stufen durchkreuzt, besser als ein Hockney aus.

RCA

RCA
Ich spazierte durch eine der Einkaufsstraßen von Havanna, als dieses Schild auftauchte. Es faszinierte mich – an Ort und Stelle gegossen, überwuchert. Es stammt offensichtlich aus einer anderen Zeit, als die USA noch Handel mit Kuba trieben. Ich liebe diese grafischen Elemente.

Escuelas Nacionales de Arte

Escuelas Nacionales de Arte
Kuba liegt natürlich in den Tropen und diese Fallrohre interessierten mich – wie die Konstrukteure mit dem Regen und dem Schutz vor dem Wetter umgingen. Grafisch war das hochinteressant.

Havana Shadows

Schatten in Havanna
Ich glaube, wir saßen in einem Café und ich sah diese Männer, die an einem Gebäude arbeiteten, Sanierungsarbeiten oder etwas ähnliches. Sie hatten einen Kübel, mit dem sie Schutt hinunterbeförderten. Ich versuchte, das ins Bild zu fassen, es gelang mir aber kein anständiges Foto. Am Ende hatte ich das – den Mann mit der Schubkarre, der etwas abseits steht.